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WAS MACH’ ICH HIER ?

 

Trotz Gräseralergie stehe ich in der Pampa - mitten im Grünen.

Von der Autobahn kam ich auf Straßen, auf asphaltierte Strecken ohne Fahrbahnmarkierung, auf festgefahrene Wege, auf holprige, staubige Fahrrinnen. Das Gras reichte bis zum Fenster. Wieder an einer Straße angekommen muss ich wenden – wir sind vorbei gefahren.

In Maurinmühle angekommen erkenne ich Überreste von Strukturen. Bäume in enger Reihe, eine vermeintlich rechteckige Grasfläche, Mauerreste im Boden, Kirschbäume. Von einander optisch trennbare Bereiche verraten eine frühere Nutzung. Und irgendjemand kümmert sich um den Ort, ohne ihn neu zu nutzen. Stellenweise ist der Rasen gemäht. Die Überwucherungen sind in einem Maß, dass der Ort nicht verwahrlost wirkt und dennoch nicht zum Bleiben einlädt. Hinter der winzigen roten Backsteinruine ist Raum zum kurz Innehalten.

Auf der anderen Wegseite ist eine Art Teich zwischen geraden Baumlinien versteckt. Die Wasseroberfläche ist blasig, schimmert und weckt Assoziationen an Monster und Gruselmärchen, obwohl der Sonnenschein ein Glitzern hinterlässt, das blendet.

Märchenhaft. Irgendwie ist es hier eigenartig und märchenhaft. Die Ruhe ist mir unheimlich. Ich höre Wind, Insekten und Vögel, nicht aber Zivilisation.

Der Versuch, mir die gartenähnliche Struktur genauer anzusehen, wird von dicht gewachsenen, hüfthohen Gräsern verhindert.

 

Was mach’ ich hier?

Wir wollen ein Kunstprojekt zu diesem Ort und der Frage nach dem Umgang mit Geschichte und Erinnerung machen. Da sollte ich mir diesen Ort zuerst einmal ansehen.

Aber, was mach’ ich hier?

Ich habe von der Geschichte dieses Ortes gehört. Nun stehe ich hier und habe das Gefühl zu stören. Der Ort heilt sich selbst. Er braucht nur noch etwas Zeit.

Ich erinnere mich, was „Gras über eine Sache wachsen lassen“ bedeutet und bin mir plötzlich sehr unsicher, ob es das ist, was ich für richtig halte. Sollten wir so einen Ort heilen lassen? Die Erinnerung an Gräuel der Vergangenheit heißt auch immer, eine Narbe zu erhalten – eine Zeit lang Wunden offen zu halten. Ohne die Erinnerung sind wir verdammt Geschichte zu wiederholen. Wie sieht ein gesunder Umgang mit Geschichte aus? Müssen wir uns selbst und zukünftige Generationen neu traumatisieren um ein Verständnis zu schaffen?

Ich stehe im Grünen und kenne Geschichtsfetzen vom Hörensagen. Ich puzzle mir einen Überblick aus verschiedenen Dokumenten zusammen und projiziere mein vermeintliches Wissen auf einen Ort, an dem ich vorbei gefahren bin. Bin ich am richtigen Ort? Vielleicht übersehen wir angesichts der Horrorgeschichten, dass hier Menschen versucht haben, inmitten dunkler Zeiten ein Refugium zu schaffen. Vielleicht hat neben der kindermordenden Leiterin des Kinderheims dort jemand gearbeitet, der ein liebes Wort, eine Umarmung, eine aufmunternde Geschichte in den Alltag der Schützlinge gebracht hat? Vielleicht gab es in jeder Phase dieses Objektes jemanden, der versucht hat, es zu einem „Heim“ zu machen?

Und während ich nach Hoffnung suche, nach Erleichterung für mich selbst, wird mir klar, dass ich das Leid jeder einzelnen Person, in dieser Geschichte, relativiere. Ich kann nicht wissen, wie es den Jungen ging, die der Leiterin geholfen haben, einen 14-Jährigen zur Strafe zu baden, der dann dabei umkam. Ich weiß nicht, wer sie waren, ob sie heute noch leben, ob sie bereit wären, mit jemandem darüber zu sprechen, oder es sogar schon getan haben. Am wenigsten weiß ich, ob ich es wissen möchte. Diese lebenseinschneidenden Erfahrungen würden mich plötzlich betreffen. Ich könnte sie nicht abtun, wie eine Geschichte die ich irgendwo gelesen oder verfilmt gesehen habe. Selbst die werden Teil meiner persönlichen Erfahrungen und somit meiner Identität! Je dichter ich diesen Leuten, diesem Ort komme, umso mehr wird seine Geschichte zu meinem Sein. Will ich, dass mein Leben etwas mit diesem Ort zu tun hat? Kann ich abwehren, dass die Geschichte dieses Ortes etwas mit mir zu tun hat, wenn ich doch gehört habe und weiß?

Werde ich automatisch zum Teil einer Geschichte, sobald ich Kontakt zu ihr hatte und mein Umgang mit ihr schreibt sie fort, kann Heilung oder Vertiefung des Unglücks sein?

Es gibt und gab so viel Unerträgliches auf dieser Welt, sollte ich mich nicht lieber der Linderung und Vermeidung aktuellen Leids widmen? Kann ich so etwas überhaupt tun, ohne Geschichte zu kennen? Gehört zur Vermeidung aktuellen Leids nicht das Wissen darum, welches wir uns nur durch die Auseinandersetzung, also Sichtbarmachung des Vergangenen

erarbeiten? Zum Umgang mit Unrecht gehört nicht nur das Bauchgefühl, welches solches zu erkennen glaubt, sondern eine gedankliche Auseinandersetzung und Einordnung, sowie der Umgang mit vermeintlichen Tätern und einer gesellschaftlichen Moral, welche Strafen legitimiert oder verbietet. Wenn jeder Täter potentiell auch ein Opfer sein kann, hat der Umgang mit durch Menschen verursachtem Leid andere Folgen, auch in der historischen Aufarbeitung von Ereignissen, als ein simples, schwarz-weißes Täter-Opfer-Denken. Und ich kenne die Ereignisse dieses Ortes hauptsächlich vom Hören-Sagen! Einer der Hauptskandale dieses Ortes ist die mehrfach, durch verschiedene Regime verhinderte Aufarbeitung seiner Geschichte und nun gibt es kaum noch Überlebende!

Für wen erinnern wir eigentlich? In meinem Versuch, mich selbst durch Distanz zu schützen, drifte ich immer wieder von der Frage ab, was Hinterbliebene vielleicht bräuchten. Gibt es welche? Bis zu welchem Grad zählt ein Mensch als Hinterbliebener? Ist es eine nationale Frage? Ist die Erinnerung an getötete Kinder von Zwangsarbeiterinnen polnischer Nationalität vor rund 80 Jahren ein Bedürfnis für Menschen des heutigen Polens, des heutigen Deutschlands, der Menschen um den Todesort herum? Geht es uns alle etwas an, weil wir Menschen sind und gerade in Mecklenburg-Vorpommern wissen, wie schnell Verwaltungsgrenzen und nationale Zugehörigkeiten sich verändern können? Geht es mich mehr an, als dass ich wissen wollte, dass es „sowas“ gab, dass es Unrecht ist, dass es sich nicht wiederholen soll, egal wo auf der Welt? Warum sollte ich mein Leben überhaupt mit der Auseinandersetzung mit solchen Themen verbringen? Ich habe genug um die Ohren! Ich sorge in meinem sozialen Umfeld für Frieden, soweit es in meiner Macht liegt. Reicht das nicht?

Was mach’ ich hier?

Ob sich das auch die Menschen gefragt haben, die hier Etappen ihres Lebens verbrachten? Heimleiter, Krankenschwestern, „Pfleglinge“, Schützlinge, Müller, Durchreisende?

Vielleicht will ich an diesem Ort gar nichts machen. Er heilt sich selbst.

Allerdings ist es ein Ort, der in Segmenten seiner Vergangenheit für ganz viele Andere steht, nur dass wir hier von einigen Punkten wissen. Es kann ein Stellvertreter-Ort sein. Viele Phasen unserer Geschichte, Gräueltaten und Fachliches, was wir pädagogisch wertvoll aufbereiten können. Der Ort als Märtyrer damit wir nicht das ganze Land mit Narben übersehen müssen, damit Gras wachsen kann.

Wie macht mensch weiter, wenn diese offensichtlichen, alles überlagernden Geschichten ganze Regionen brandmarken? Bänke und Blumenkübel aufstellen? Einen Picknickplatz hinter dem Waschhaus kultivieren? Fragmente des Unheils illustrieren? Ein ominöses „nie wieder!“ aufstellen? Darüber reden, was war? Wie reden, über das was war und wie anschließend weiter machen? Mit wem reden? Mit wem reden ohne die Last überzuhelfen? Wenn ich Menschen vor Ort anspreche, impliziere ich womöglich eine Inpflichtnahme oder gar Mitschuld durch Schweigen? Ich will doch niemandem sein Lebensumfeld schlecht reden! Und Zwangsarbeit gab es in ganz Mecklenburg-Vorpommern, wozu also ausgerechnet hier? Wir sind so dünn besiedelt, dass jede Ansprache etwas Persönliches hat. Die Gräuel in Maurinmühle waren großteils systemisch – verstärkt durch vorauseilenden Gehorsam. Wenn die Geschehnisse an diesem Ort strukturelle Ursachen hatten und die Menschen nach den moralischen Vorstellungen ihrer Zeit agierten, verhindern dann nicht durch Erkenntnis veränderte Sozialmoral in Verbindung mit anderen Strukturen die Wiederholung besagter Geschehnisse? Impliziert diese Frage, dass die betroffenen Menschen moralisch unterlegen oder ungebildet waren? Sind unsere Strukturen andere? Falls ja, sind sie weiterentwickelt in Hinblick auf die Vision einer gerechten Gesellschaft?

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Ich wollte hier Kunst machen! Der Ort scheint so im Prozess zu sein, dass es mir kontra-produktiv, invasiv vorkommt, einen sichtbaren, auffindbaren Eingriff vorzunehmen. Ich habe dem nichts hinzuzufügen! Ich kann nicht heilen. Ich will nicht mahnen.

Was soll Kunst? Die Aufgabe von Kunst ist weder eine historische Recherche, noch die Illustration derer Ergebnisse. Was Kunst kann, ist auf emotionaler Ebene zu kommunizieren und Räume für Themen öffnen, die in unserem Alltag nicht genug Platz haben. Wir können Fragen aufwerfen.

 

Jetzt sitze ich hier inmitten meiner aufgeworfenen Fragen.

Was mach’ ich hier?

Rico. 2022-2023

Maurinmühle'23_bWz/wit

"Was mach' ich hier?", 2023, 08:38 min

einatmen - ausatmen - noch mal , 03:07 min

Projektinfos_Ortszeit IV

Kunstprojekt / Ausstellungen | „ORTSZEIT IV – Maurinmühle Teil 2“

24.06. – 10.09.2023 | St. Laurentius-Kirche Schönberg
15.07. – 10.09.2023 | Maurinmühle

zur Geschichte des Ortes

Geschichte Maurinmühles

Eckdaten der Geschichte von „Maurinmühle“

 

.   im Volksmund über Jahrhunderte als „Mordmühle“ bekannt

.   seit Ende 19. Jh. „Maurinmühle“

.   02. August 1928 von der Ortskrankenkasse Lübeck als „Genesungsheim Maurinmühle“ betrieben

.   in den 1930er Jahren von der Deutschen Arbeiterfront, Gau Mecklenburg, als Erholungsheim und Schulungslager genutzt

.   an den Kreis Schönberg verkauft

.   1938 kurzzeitig TBC-Heim

.   1938 – 1948 Kinderheim

.   ab 01. Dezember 1939 Nutzung durch Landrat (vorher: Gauwaltung Mecklenburg)

.   1948 – 1973 Feierabendheim [Altersheim]

.   Abriss Ende der 1970er Jahre

altes Waschhaus Maurinmühle (c)RamonaSeyfarth_'22-06-29

altes Waschhaus Maurinmühle (c)RamonaSeyfarth_'22-06-29

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.   Da der Titel am Haus sich nicht so stark geändert hat, soll einfach nur der erste Teil grob weggebürstet und neu überschrieben worden sein. Das „HEIM“ blieb wohl für verschiedene Stufen der Nutzung erhalten.

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.   Die Sage der Mordmühle ist schnell zusammengefasst: Für Reisende, die das Gebiet durchquerten waren kaum Übernachtungsmöglichkeiten vorhanden, weshalb der Müller und seine Frau eine Herberge boten. Durch einen Klappmechanismus fielen die Schlafenden vom Bett in die tieferliegende Etage. Falls sie den Sturz überlebten, wurden sie erschlagen. Anschließend beraubte man sie ihrer Habseligkeiten. So soll sich das Müllerpaar bereichert haben bis ihnen eines Tages ihr eigener Sohn – von ihnen bis zu seinem Tod unerkannt – zum Opfer fiel.

.   In den 70er Jahren soll eine Lehrerin auf Fragen der SchülerInnen bezüglich des Carlower Grabsteins versucht haben, mehr über die Geschichte des Ortes herauszufinden. Kurz darauf wurden „Maurinmühle“ abgerissen. Es blieben die Überreste, die wir auch heute noch finden.

.   Ein Zeitungsartikel verweist auf ein Grab in Carlow mit der Inschrift: „Hier ruhen neun Kinder der Volksrepublik Polen“ und fasst Augenzeugenberichte zusammen, nach denen Magarine-Kartons aus dem Kinderheim zum Friedhof gebracht wurden. Die Vermutung, darin seien die verstorbenen Säuglinge polnischer Zwangsarbeiterinnen transportiert worden, wird geäußert. Auch, dass die Zustände in der Waschküche, wo die Kinderleichen oft tagelang aufbewahrt worden sein sollen, derart schlecht gewesen seien, dass Fressspuren von Ratten unübersehbar waren.

.   Aus einem Schreiben des Leiters des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP Gau Mecklenburg, Dr Leu, an das Ministerium des Inneren, vom 12. Januar 1945, geht hervor, dass ein 14-Jähriger Junge im „Kampf“ erschlagen wurde. „Die Leiterin hat ihn, weil er wasserscheu ist, mit einem Bad bestrafen wollen. Der Kampf hat unter Zuhillfenahme von zwei Jungen des Heimes stattgefunden.“

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Im selben Schriftstück wird bemängelt, dass die Leiterin wohl kaum wegen ihrer Qualifikationen eingesetzt sei, sondern weil sie "sehr billig wirtschaftet".

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